NZZ--- 2020-04-27 Gastkommentar Die grosse Welle verläuft in kleinen Wellen: warum die Corona-Pandemie noch nicht vorbei sein dürfte Halten wir uns an die epidemiologischen Modelle, so können wir beruhigt aufatmen, weil wir den Höhepunkt der Corona-Pandemie hinter uns zu haben scheinen. Doch wiegen wir uns womöglich zu früh in Sicherheit. Es gibt da noch ein paar offene Fragen. Niall Ferguson Kommentare 27.04.2020, 08.37 Uhr Bild Eine Welle kommt selten allein – das gilt auch für den Verlauf von Epidemien. (Katsushika Hokusai: «Die grosse Welle», ca. 1829–1833.) PD Jeder kennt das Bild «Die grosse Welle», das berühmteste aller japanischen Kunstwerke, auch wenn die Leute den Namen des Künstlers nicht kennen – Hokusai veröffentlichte «Die grosse Welle vor Kanagawa» irgendwann zwischen 1829 und 1833. Es handelt sich um einen Holzschnitt des Genres Ukiyo-e, was sich recht freundlich mit «Bilder der heiteren, fliessenden Welt» übersetzen lässt. Das Werk hat unsere Aufmerksamkeit verdient. Wer sich «Die grosse Welle» genauer ansieht, erkennt, dass sie sich über den in drei hölzernen Fischerbooten kauernden Ruderern auftürmt. Sie sind auf dem Rückweg nach Kanagawa (dem heutigen Yokohama). In der Ferne ist der Vulkankegel des Fuji zu sehen. In diesen Tagen geht es uns allen ein wenig wie diesen japanischen Fischern, die unter einer gigantischen Welle kauern. Unsere Welle ist die von dem Virus Sars-CoV-2 ausgelöste Pandemie mit der tödlichen Erkrankung Covid-19, die es verursachen kann. Doch wie dürfte sie genau verlaufen? Die Modelle sind zuverlässig In den letzten beiden Monaten – seit die Epidemiologen die Politiker davon überzeugt haben, die Gefahr durch Covid-19 ernster zu nehmen als die jährliche winterliche Grippewelle – faszinieren uns Bilder wellenähnlicher Formen: Diagramme zeigen den frühen exponentiellen Anstieg von Infizierten und Todesfällen und anschliessend die flacher werdende Kurve, wenn wir physischen Abstand wahren und wirtschaftliche Beschränkungen einhalten. Zunächst wurden diese Diagramme aufgrund epidemiologischer Modelle erstellt. Inzwischen sind es jedoch die momentanen Zahlen der bestätigten Infektionen und Todesfälle. Sie stimmen nicht exakt, aber doch recht gut mit den vorhergesagten Kurven überein – kein Modell ist perfekt. In den meisten der am stärksten betroffenen Orte der Industrieländer wie etwa New York scheint es nun so, als sei die Welle gebrochen. Was neue Fälle, Klinikeinweisungen, Intubationen und Todesfälle angeht, liegt der Höhepunkt inzwischen hinter uns. Für Amerika insgesamt hat sich die grosse Welle der Neuinfektionen seit der ersten Aprilwoche deutlich abgeflacht. Auch im Vereinigten Königreich darf es – unter Berücksichtigung aller Datenlücken – als wahrscheinlich gelten, dass der 8.?April in Bezug auf die Sterblichkeit den Höhepunkt der Welle markiert. In einer Reihe von europäischen Ländern, speziell in Österreich, Dänemark und Deutschland, sieht die Lage sogar noch ermutigender aus, weshalb deren Bürger – anders als New Yorker und Briten – sich darauf freuen können, in einigen Tagen zu einer teilweisen Normalität zurückzukehren. In den USA bewegen sich einige Staaten schon in die gleiche Richtung. In Montana, dem schönen und dünn besiedelten Staat, in den ich mich vor sechs Wochen zurückgezogen habe, werden heute die Kirchen wieder für Gottesdienste geöffnet, und am Montag werden die meisten Einzelhandelsgeschäfte wieder ihre Arbeit aufnehmen können. Aber Achtung: Da kommt noch mehr War’s das also? Die Welle ist gebrochen; die meisten von uns haben überlebt; zurück zur Normalität? Der US-Vizepräsident Mike Pence sagte am Mittwoch letzter Woche: «Während wir weiter verantwortungsvoll damit fortfahren, die Wirtschaft im ganzen Land Staat für Staat wieder in Gang zu bringen, sind wir fest davon überzeugt, dass wir Anfang Juli einen Punkt erreicht haben könnten, an dem diese Coronavirus-Epidemie weitgehend Vergangenheit ist. Die Amerikaner werden wieder einen guten Sommer geniessen können.» Ich meine hingegen: abwarten. So schnell wird dies nicht geschehen. Alle grossen Pandemien der Geschichte sind in Wellen verlaufen, darunter der Schwarze Tod der Beulen- und Lungenpest im 14. und die Pocken im 18.?Jahrhundert. Der erste überlieferte Ausbruch einer Seuche – in Athen im 5.?Jahrhundert v.?Chr. - verlief in drei Wellen: 430 v.?Chr., 429 v.?Chr. und 427–426 v.?Chr. In einigen Fällen verlief die zweite Welle schwerer als die erste. Nehmen wir die Spanische Grippe von 1918 und 1919. Der erste dokumentierte Ausbruch ereignete sich im März 1918 in Camp Funston, einer Militärbasis in Kansas. Doch der globale Gipfelpunkt der Sterblichkeit zeigte sich in der zweiten Welle im Oktober und November. Eine dritte Welle traf einige Bereiche der Welt Anfang 1919 – vorwiegend England, Wales und Australien. Die Grippeepidemie von 1957 und 1958 traf Hongkong Mitte April 1957. Amerika erreichte sie im Juni; sie verursachte im folgenden Herbst einen starken Anstieg von Todesfällen unter Teenagern. Von Januar bis März 1958 kam es jedoch zu einer zweiten Welle. Anfang der 1960er Jahre und Anfang 1963 traten weitere Spitzen von Übersterblichkeit auf. Eine zweite Welle von Covid-19 im Jahr 2020 ist vor allem deswegen zu erwarten, weil wir nirgendwo auch nur annähernd Herdenimmunität erreicht haben. Selbst im Bundesstaat New York, dem am schlimmsten betroffenen Teil Nordamerikas, liegt die Infektionsrate laut den jüngsten Tests kaum über 21 Prozent. Während Einschränkungen gelockert werden und die Leute wieder zur Arbeit zurückkehren, ist fast unvorstellbar, dass wir keine steigenden Infektionen, Erkrankungen und Todesfälle erleben werden. In einigen Teilen Asiens, besonders in Singapur und Nordchina, können wir das bereits feststellen. Das sind die offenen Fragen Nur eine einzige Frage ist zunächst offen: Wie stark wird das wärmere Wetter die Ansteckung auf der Nordhalbkugel dämpfen? Ich habe alle wissenschaftlichen Aufsätze zu diesem Aspekt gelesen und bin weiterhin nicht überzeugt. Wir lernen, dass dieses Virus sich am schnellsten in Gebäuden ausbreitet – in geschlossenen Räumen wie U-Bahn-Zügen, Restaurants und Kliniken. (Deswegen war es übrigens ziemlich sinnlos, Parks und Strände zu schliessen, und unter dem Strich wahrscheinlich eher schädlich.) Demnach ist es also möglich, dass der Sommer die Ansteckungsfähigkeit des Virus nicht radikal verringert, solange wir nicht alle unsere Schreibtische nach draussen schaffen. Wenn hingegen das Wetter dennoch eine Rolle spielen sollte, dann dürfte die zweite Welle im Oktober kommen, wenn es kälter wird und die meisten Schulen und Universitäten versuchen, zur Normalität zurückzukehren. «Es besteht die Möglichkeit, dass der Angriff des Virus auf unser Land im nächsten Winter schlimmer wird als der, den wir gerade durchlebt haben», erklärte Robert Redfield, der Leiter der Centres for Disease Control and Prevention, letzte Woche in einem Interview. «Wir werden die Grippeepidemie und die Coronavirus-Epidemie gleichzeitig haben.» Denken wir nun einfach an das, was dieses Szenario politisch bedeuten könnte – für die USA und also auch für den Rest der Welt. Eine zweite Welle wäre der Todesstoss für das fröhliche Gerede von einer «V-förmigen» wirtschaftlichen Erholung. Und sie käme genau rechtzeitig, um ältere amerikanische Wähler – nicht vergessen, die sind den Republikanern zugeneigt! – davon abzuhalten, zur Wahl zu gehen, die am 3.?November 2020 über die Bühne geht. Eine letzte Woche veröffentlichte Umfrage zeigte Joe Biden, den Kandidaten der Demokraten, in sechs entscheidenden Staaten Kopf an Kopf mit Donald Trump, dem US-Präsidenten: Arizona, Florida, Michigan, North Carolina, Pennsylvania und Wisconsin. Bei drei zentralen Themen – Umgang mit der Pandemie, Vorbeugungsmassnahmen gegen eine weitere Pandemie und erschwinglichere Krankenversicherung – liegt Biden knapp vor Trump. Und das nach Wochen, in denen Biden mehr oder weniger unsichtbar gewesen ist, Trump dagegen allgegenwärtig. In den letzten Wochen haben wir alle viel zu viel über eine Abflachung der Kurve gehört – als gäbe es nur die eine Kurve. In der Geschichte der Pandemien, ich fürchte das sagen zu müssen, gab es nur wenige Fälle von «einmal und erledigt». Die einzigen noch offenen Fragen lauten: Wann genau wird die zweite Welle anlaufen, wie gross wird sie sein, und wird ihr noch eine dritte folgen? Hokusais Bild von der grossen Welle sollte man sich genauer ansehen: Es zeigt keinen Tsunami, sondern eine sogenannte Monsterwelle. Der Künstler rechnet wohl nicht damit, dass das Meer, nachdem die grosse Welle gebrochen ist, zu einem Gartenteich wird. Solange wir keine Herdenimmunität erreichen oder keinen Impfstoff finden und verteilen, gilt das leider auch für Covid-19. Niall Ferguson ist Senior Fellow am Zentrum für europäische Studien in Harvard und forscht gegenwärtig als Milbank Family Senior Fellow an der Hoover Institution in Stanford, Kalifornien. Der obenstehende Essay ist eine Kolumne, die Ferguson für die britische «Sunday Times» verfasst hat – sie erscheint hier exklusiv im deutschen Sprachraum. Wir danken der «Sunday Times» für die Möglichkeit des Wiederabdrucks. – Aus dem Englischen übersetzt von Helmut Reuter. NZZ